(v.l.n.r.) Harald Schneider (Vorstandsmitglied, AWO Bezirksverband Unterfranken e.V.), Gerald Möhrlein (Vorstandsmitglied, AWO Bezirksverband Unterfranken e.V.), Martin Ulses (Bezirksgeschäftsführer, AWO Bezirksverband Unterfranken e.V.), Irene Görgner (Vorstandsmitglied, AWO Bezirksverband Unterfranken e.V.), Christian Schuchardt (Oberbürgermeister Stadt Würzburg), Walter Herberth (Stiftungsleiter Stiftung Juliusspital Würzburg) und Ulrike Hahn (Fachbereichsleiterin Senioren & Reha, AWO Bezirksverband Unterfranken e.V.) bei der Dienst-Tags-Demo für Verbesserungen in der Pflege.

AWO-Pflegeexpertin Ulrike Hahn sieht die Langzeitpflege am Scheideweg angelangt
WÜRZBURG. Informiert sich Ulrike Hahn vor Ort über die Situation in den 15 Pflegeeinrichtungen der unterfränkischen Arbeiterwohlfahrt (AWO), hört sie von den Pflegekräften oft: „Ich bin total erschöpft!“ Oder auch: „Ich kann bald nicht mehr!“ Das macht der Leiterin des Bereichs „Senioren und Reha“ bei der AWO in Unterfranken große Sorge. Warum dies so ist, liegt für Ulrike Hahn allerdings glasklar auf der Hand: „Es fehlt an allen Ecken und Enden an Personal.“
In letzter Zeit häuften sich beunruhigende Nachrichten aus der Pflegebranche. Immer dringlicher wird auf den Pflegenotstand aufmerksam gemacht. Dabei ist die Problematik alles andere als neu. „Ich kenne sie seit 30 Jahren“, sagt Ulrike Hahn, die bis 2012 eine Pflegeeinrichtung leitete und seither Bereichsleiterin bei der AWO ist. Auch die AWO selbst kämpft seit Jahren für eine gute Pflege. Wie die ausschauen könnte, steht im aktuellen AWO-Positionspapier „Wege aus dem Pflegenotstand in der Langzeitpflege!“. Ulrike Hahn kann jeden Punkt unterschreiben. So fordert auch sie die im Papier verlangte 35-Stunden-Woche für Pflegekräfte.
Politiker propagieren gern eine „Gute Pflege im Alter“. CDU/CSU zum Beispiel haben unter diesem Titel bereits 2017 eine zehnseitige Publikation herausgebracht. Die SPD listet in ihrer „Bilanz 2017-2021“ auf, was sie alles für „Gute Pflege“ tat. „Wir sorgen für gute Pflege“ versprechen aktuell vollmundig die Grünen. Doch die Pflege ist nicht gut. Und sie ist in den letzten Jahren nicht besser geworden, konstatiert Ulrike Hahn. Im Gegenteil sei der Personalmangel inzwischen derart gravierend, dass aktuell in vier Heimen der AWO allein aus diesem Grund Plätze nicht neu besetzt werden können – trotz Nachfrage.
Öffentlich wird seit langem massive Kritik an der Art und Weise geübt, wie Pflegekräfte arbeiten müssen. Zu Recht. Doch eben dadurch wurde das Image der Pflege so schlecht, dass immer weniger junge Menschen Pflegekraft werden wollen. Das wiederum führt dazu, dass das Personal überall auf Kante genäht ist, schildert Ulrike Hahn: „Ein ganz normaler Krankheitsfall kann zur Katastrophe für die Dienstplanung und für die Mitarbeiter*innen und Mitarbeiter werden.“ Dann muss eine Altenpflegerin, die vielleicht dringend erholungsbedürftig ist, aus dem Frei geordert werden. Sie wird dadurch noch stärker belastet. Was das Risiko erhöht, dass auch diese Pflegekraft erkrankt.
Es sei die Quadratur des Kreises, angesichts belasteter Sozialkassen Pflegekräfte gut zu bezahlen ohne die Pflegebedürftigen finanziell zu stark zu belasten, erklärte kürzlich Erwin Rüddel, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Bundestag. Ulrike Hahn kann solche Aussagen nicht nachvollziehen: „Ich wüsste eine Lösung!“ Warum, fragt sie, hat man in Deutschland mehr als hundert verschiedene Krankenkassen? Das verschlingt unnötig viel Geld. In anderen Ländern, etwa in Finnland, gibt es eine einheitliche Krankenversicherung für alle.
Dass Menschen vor lauter Stress krank werden, kommt in jeder Branche vor. „Doch in der Pflege ist die Krankheitsquote besonders hoch. Einer soeben veröffentlichten Studie der Techniker Krankenkasse zufolge fehlen Beschäftigte in der Altenpflege durchschnittlich 24,8 Tage wegen Krankheit. Damit liegt diese Zahl ziemlich genau über dem Doppelten der durchschnittlichen Fehltage aller Beschäftigten. In den Häusern der AWO in Unterfranken sind laut Ulrike Hahn im Durchschnitt oft bis zu zehn Prozent der Pflegekräfte krank. Fatal sei dies nicht zuletzt deshalb, weil häufig Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen eingestellt werden müssen, um die Ausfälle zu kompensieren.
Gerade die Problematik der Leiharbeit in der Pflege gewinnt an Relevanz. Laut Ulrike Hahn ist es nämlich keineswegs so, dass die Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen ausgebeutet würden. Im Gegenteil verdienen sie in der Pflege weit mehr als fest angestellte Kräfte. Außerdem können sie sich auszusuchen, wie sie arbeiten möchten. Etwa nur im Tagdienst. Oder ausschließlich nachts. Ausgebeutet würden die Einrichtungen: „Wir bezahlen für Leiharbeitskräfte monatlich 12.000 Euro.“ Hinzu komme, dass die Privilegierung von Leihpflegekräften innerhalb der Pflegeteams zur Spaltung führen kann.
Spricht Ulrike Hahn über die Pflege, schwingt unüberhörbar Kapitalismuskritik mit. „Wie kann es sein, dass durch unsere Beiträge in die Sozialversicherungssysteme Aktionäre reicher werden“, moniert sie mit Blick auf Konzerne, die Kliniken und Pflegeheime betreiben. Auch damit geht die AWO-Pflegeexpertin mit dem konform, was im Positionspapier des AWO-Landesfachausschusses Altenpflege steht. „Die Liberalisierung und Privatisierung stellt im Gesundheitswesen, insbesondere im Pflegebereich, eine große Problematik dar“, heißt es dort.
Ulrike Hahn sieht die Langzeitpflege am Scheideweg stehen. „Die Situation ist prekärer denn je, und das ist absolut nicht einfach so daher gesagt“, betont sie. Politiker, die das noch nicht begriffen hätten, sollten einmal einen Tag lang in einer Pflegeeinrichtung mitarbeiten: „Und sich nicht bloß bei der ‚Aktion Rollentausch“ für ein Foto postieren.“ Unabdingbar notwendig ist für Ulrike Hahn, dass endlich eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich eingeführt wird. Sicherlich werde dies nicht von einem Tag auf den anderen geschehen können: „Doch zumindest sukzessive.“
Die meisten Pflegekräfte juckt nicht das Geld, das sie durch ihren Beruf verdienen. Natürlich ist Geld wichtig. Aber wer sich entscheidet, Pflegekraft zu werden, dem geht es in allererster Linie darum, kranke oder alte Menschen bestmöglich zu versorgen und zu begleiten. Aus den geschilderten Gründen ist dieses Bestmögliche in der Praxis oft nicht mehr realisierbar. Genau das ist für Ulrike Hahn eine Katastrophe.

Quelle: AWO Unterfranken

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